„Sehr geehrte Damen und Herren“, schreibt mein Kursteilnehmer Ahmad N. aus Afghanistan. Er ist an diesem Unterrichtstag kurz vor den Ferien der einzige im Kurs und möchte einen Brief verfassen. Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten in unterschiedlichen Kursen E-Mails, Briefe und Karten geschrieben und über die richtige Anrede diskutiert. Wie oft habe ich die Frage vieler Lernender mit einem anderen kulturellen Hintergrund gehört: Warum die Dame zuerst? Und wie oft habe ich diese Frage als Vorlage benutzt, um zum Thema Respekt vor Frauen und Gleichberechtigung von Frau und Mann überzuleiten. Zum Glück nicht allzu häufig, denn dass meine Argumente für Gleichberechtigung in Deutschland auf wackeligen Füßen stehen, habe ich ziemlich schnell bemerkt.

Zu dieser Zeit war die ungleiche Entlohnung von Frauen und Männern mal wieder ein Thema in den Nachrichten. Nicht zum ersten Mal und sicher auch nicht zum letzten Mal in der jüngsten Vergangenheit. Es scheint sich offensichtlich nicht allzu viel zu tun in dieser Hinsicht. Dass Frauen überhaupt ohne Einverständnis ihrer Männer arbeiten dürfen, ist ja auch erst ungefähr ein halbes Jahrhundert her. Sicher, Gleichberechtigung ist ein hohes Gut und sollte Grundlage jeder Gesellschaft sein. Leider ist sie aber auch in Deutschland noch gar nicht so selbstverständlich, wie wir es gerne hätten.

Gelebte Gleichberechtigung oder Klischee ade

Ahmad N. schreibt konzentriert seinen Brief. Sein Anliegen ist ihm wichtig, weswegen er äußerst bemüht ist, die richtigen Worte zu finden. Er erklärt den Damen und Herren vom Jobcenter sehr höflich, warum er erst am Nachmittag Termine wahrnehmen kann. Seine Frau besucht nämlich am Vormittag die Berufsschule. Das sei eine große Chance für sie, findet Ahmad. In dieser Zeit kümmert er sich selbstverständlich um seine drei kleinen Töchter. Die beiden älteren haben mittlerweile einen Kindergartenplatz. Die Jüngste schläft friedlich in der Babyschale, die heute neben Ahmad auf dem Schreibtisch steht.