Alphabetisierung – warum Lesen und Schreiben eine Herausforderung fürs Gehirn sind
Was bedeutet der Aufbau des Gehirns für den Prozess der Alphabetisierung? Prof. Dr. Marion Grein von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz nimmt uns mit auf einen Weg durch das Gehirn und erklärt, warum Lesen und Schreiben eine große Herausforderung sind.
Unser Gehirn ist für das Sprachenlernen gemacht. Bereiche für das Hören, Sprechen, Wortschatz, Grammatik und Aussprache sind bereits vor der Geburt angelegt. Für das Schreiben und Lesen gibt es allerdings keine Areale. Das bedeutet, dass diese vollkommen neu erstellt werden müssen. Ausgangspunkt dafür ist immer die gesprochene Sprache.
Das erklärt auch, warum Vorlesen bei Kindern für das Erlernen des Lesens so enorm wichtig ist. Das Kind lernt darüber, Lauten bestimmte Zeichen zuzuordnen, idealerweise durch das begleitende Markieren der Wörter mit dem Finger.
Alphabetisierung bei Kindern
Bei der Alphabetisierung muss also jedes Graphem, jeder Buchstabe, mit dem bereits zuvor erworbenen Sprachlaut, dem Phonem, verbunden werden. Das Gehirn durchläuft dabei eine komplette Reorganisation.
Wichtig zu wissen: Bei manchen Menschen (rund sieben Prozent) – egal ob Kinder oder Erwachsene – verweigert das Gehirn diese Reorganisation. Allgemein wird dann von einer Schwäche gesprochen, doch eigentlich handelt es sich um ein starkes Gehirn, das sich nicht beliebig manipulieren lässt.
Auch für das Schreiben müssen neue motorische Bereiche ausgebildet werden. Die Stifthaltung und ebenfalls die Stiftführung müssen Lernende bei der Alphabetisierung langsam einüben. Denn der ungewohnte Drei-Finger-Griff, der für das Schreiben notwendig ist, führt schon nach kurzer Zeit zu Verkrampfungen der Hand. Deswegen sollte man auch zu Beginn alle zehn Minuten kleine Pausen für ein Training der Hand einplanen, damit sich die Verkrampfungen nicht verfestigen.
Bei der Alphabetisierung sollte man auf jeden Fall mit der Druckschrift beginnen, denn sie ist weitaus leichter zu erlernen als die Schreibschrift.
Mit der Hand zu schreiben trainiert zwölf verschiedene Areale im Gehirn: von der Wahrnehmung der Information über die Verarbeitung bis zur motorischen Ausführung. Deswegen ist es auch so sinnvoll, um Informationen wirklich zu verinnerlichen. Das passiert beim Schreiben am Computer nicht.
Alphabetisierung bei Erwachsenen im Alphakurs
Bei primären Analphabet:innen im Alphakurs, also Lernenden, deren Erstsprache nicht Deutsch ist und die Schreiben und Lesen auch nicht in der Erstsprache erlernt haben, kommt natürlich erschwerend hinzu: Die meisten Phoneme sind den Lernenden noch nicht hinreichend bekannt.
Dementsprechend schwer ist es, Graphem und Phonem zu verbinden. Gerade Laute wie Ü oder Ö, die in vielen Sprachen gar nicht vorkommen, können von vielen Lernenden nicht gehört werden. Eine weitere Schwierigkeit ist die deutsche Auslautverhärtung. In manchen Sprachen gibt es beispielsweise auch keine Längendistinktion bei Vokalen.
Die ersten drei Wochen im Alphakurs
Für primäre Analphabet:innen eignet sich eine synthetische Herangehensweise, das heißt Laut für Laut bzw. Buchstabe für Buchstabe. Also vom Buchstaben zur Silbe und dann erst zum Wort.
Hueber-Referentin Marion Grein schlägt folgendes Anfangsprogramm vor:
In der ersten Woche Chunking zum Kennenlernen. Das heißt, Lehrende vermitteln den Kursteilnehmenden durch Vorsprechen und Wiederholen Redemittel, die in bestimmten kommunikativen Situationen eingesetzt werden können. Dazu gehören zum Beispiel Standardformulierungen zum Vorstellen wie Ich heiße/ich bin … ich komme aus …
Es geht dabei ausschließlich um die Kommunikation, nicht um Grammatik.
Außerdem bietet sich das Mitbringen von Gegenständen oder Nahrungsmitteln wie Obst an, die man im Kurs benennen kann und deren Namen dann immer wieder ausgesprochen werden. Ebenfalls können Lehrende mit Bildern arbeiten. Die Anfangsbuchstaben werden jeweils an die Tafel geschrieben. Am besten sollten Lehrende mit dem A anfangen, das es in fast alles Sprachen gibt, gefolgt vom O.
Um das Schreiben vorzubereiten, kann im Kurs viel gemalt werden. Zum Beispiel auch einfach Bilder ausmalen oder kleine Kritzeleien. Geübt werden können auch geometrische Formen wie Kreise.
Erst in der zweiten Woche kommt dann ein Lehrwerk wie Schritte plus Alpha neu zum Einsatz. In der Lektion 1 wird nur wiederholt. Frühestens in der dritten Woche geht es dann weiter mit Lektion 2. Sollten die Teilnehmenden mittels Bildern die Arbeitsanweisungen nicht verstehen, können Lehrende den Google-Übersetzer nutzen und die Anweisungen in der jeweiligen Erstsprache sprechen lassen.
Das nächste Webinar mit DaF-Expertin und Neurodidaktikerin Marion Grein zum Thema Alphabetisierung können Sie am 20. Juni 2024 besuchen:
Webinartipp:
Eine Reise ins lesende Gehirn – was passiert neurologisch bei der Alphabetisierung?
Das Hueber-Webinar mit Prof. Dr. Marion Grein am 20.06.2024:
Eine Reise ins lesende Gehirn – was passiert neurologisch bei der Alphabetisierung?
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Schritte plus Alpha neu
Das Alpha-Lehrwerk für primäre und funktionale Analphabet:innen
sowie Zweitschriftlernende
Grundalphabetisierung und Vermittlung elementarer Deutschkenntnisse
in drei Bänden oder in einer Kompaktausgabe
sowie zusätzliches Schreibschriftheft
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Unsere Autorin
Ariane Suckfüll arbeitet als DaF/DaZ-Dozentin, Journalistin und Prüferin. Als Lehrerin hat sie schon auf allen Niveaustufen unterrichtet. In letzter Zeit war sie vor allem in der Flüchtlingshilfe aktiv. Als Journalistin war sie viele Jahre für verschiedene, auch internationale Fachzeitschriften tätig und oft im Ausland unterwegs. Für den Blog Unterrichtspraxis DaF/DaZ verbindet sie Erfahrungen aus beiden Bereichen.